117

Dann kam der Samstag.

Andie saß bereits im Café, als Cavello eintraf. Die beiden schwarzen Range Rover fuhren auf den Platz, und die Fahrertür des ersten wurde geöffnet. Cavello stieg aus, wie immer völlig von sich eingenommen.

Dies hier war kein Theaterstück, keine Rolle. Das wusste sie. Dieser Mann würde sie liebend gern umbringen, wenn sie ihm einen Anlass bot. Aber sie musste diese Sache durchziehen. Sie musste ruhig bleiben. Sie musste schauspielern.

Cavello sah ihr erfreut und vielleicht auch ein bisschen überrascht entgegen, als er an ihren Tisch trat. Wie beim letzten Mal trug er den schwarzen Ledermantel, die Sonnenbrille und die Tweedmütze. »Ich freue mich, Sie zu sehen, Alicia. Dann hat Sie meine letzte Beschäftigung doch nicht abgeschreckt.«

»Huch, ich dachte, das wären nur Spielchen.« Andie blickte ihn über ihre Sonnenbrille hinweg an. »Sollte ich etwa Angst haben?«

Diesmal hatte sie ihre Haare nicht zu Zöpfen geflochten, und unter ihrer hüftlangen Jeansjacke trug sie ein orangefarbenes TShirt, auf dem in kleinen Buchstaben »Ball Buster« stand. Cavello las die Aufschrift. »Vielleicht bin ich derjenige, der Angst haben sollte, Alicia. Darf ich mich setzen?«

»Sicher. Es sei denn, Sie wollen im Stehen essen.«

Er setzte sich und nahm seine Mütze ab. Sein Haar war etwas grauer geworden, doch sein Gesicht hatte sich seit dem Tag, an dem Andie ihn voller Hass im Gerichtssaal angesehen hatte, am Tag der Wiederaufnahme der Verhandlung, kaum verändert.

»Auf mich wirken Sie gar nicht so unheimlich«, meinte Andie. »Außerdem – wie kann jemand, der Schafe züchtet, so schlecht sein?«

Cavello lachte. Er konnte richtig charmant sein, wenn er wollte. »Wissen Sie, das versuche ich dem Justizministerium schon seit Jahren klarzumachen.«

Andie stimmte in sein Lachen ein.
Ein Kellner kam, der Cavello zu kennen schien.
»Die empanadas sind hier wie Felsbrocken. Aber die Margaritas sind die besten nördlich der Antarktis«, erklärte Cavello.

»Margarita«, bestellte Andie, ohne die Karte zu öffnen. Cavello nahm einen Absolut auf Eis.
»Also, warum sind Sie wirklich hier?« Andie zwirbelte ihr Haar. »Hier gibt’s doch überall Schafe, oder? Sie sehen mir nicht nach einem Bauern aus, Frank.«
»Wegen des Wetters?« Cavello lächelte, bevor er fortfuhr. »Sagen wir, die Gegend hier kommt mir zugute. Trostlos. Einsam. Abgeschieden. Das sind die Pluspunkte.«
»Wissen Sie, so langsam kaufe ich Ihnen diese Sache mit dem Zeugenschutzprogramm ab.« Sie lächelte ihn verschmitzt an.
Der Kellner brachte die Getränke. Andie hob ihre Margarita, Cavello seinen Wodka.
»Auf das Ende der Welt«, prostete er ihr zu. »Und auf alle Hoffnungen und Erwartungen, die damit einhergehen.«
Andie blickte ihm ihn die Augen, als sie miteinander anstießen. »Hört sich nach einem Plan an.«
Sie nahm einen Schluck und blickte an ihm vorbei auf den Platz. Irgendwo da draußen versteckte sich Nick und beobachtete sie. Das gab ihr Kraft. Ja, die brauchte sie jetzt.
»Was für Hoffnungen und Erwartungen haben Sie denn, Frank?«, fragte sie und blickte ihn wieder über ihre Sonnenbrille hinweg an.
»Eigentlich dachte ich gerade an Sie.«
»An mich?« Andie stellte nervös ihr Glas ab. »Was wissen Sie von mir?«
»Ich weiß, dass Leute nicht die ganze Strecke bis hierher zurücklegen, wenn sie glücklich sind. Ich weiß, Sie sind sehr attraktiv und scheinbar Neuem gegenüber aufgeschlossen. Ich weiß, dass Sie hier sind.«
»Sie sind ja echt ein Psychologe.«
»Ich denke, ich mag einfach die Menschen. Mag es, wie ihre Köpfe funktionieren.«
Als er sich nach ihr erkundigte, erzählte sie ihm die Geschichte, die sie und Nick sich zusammengesponnen hatten. Über ihre erste Ehe, die zerbrochen war, über ein Restaurant in Boston, in dem sie als stellvertretende Küchenchefin gearbeitet hatte und das pleite gegangen war, und dass es Zeit für eine Veränderung in ihrem Leben war. Für neue Abenteuer. Deswegen war sie hier gelandet.
Ein paar Mal berührte sie Cavellos Arm, woraufhin er sich weiter zu ihr beugte. Sie wusste, wie das Spiel lief. Sie betete nur, dass er sie nicht bereits durchschaut hatte.
Cavello faltete die Hände vor seinem Gesicht. »Wissen Sie, Alicia, ich gehöre nicht zu den Menschen, die lange um den heißen Brei herumreden.«
»Nein, Frank.« Sie nahm einen Schluck von ihrer Margarita.
»Nein, Frank?« Er sah sie enttäuscht an.
Andie lächelte. »Nein, Frank, diesen Eindruck hatte ich überhaupt nicht.«
Auch Cavello grinste. Unter dem Tisch streifte sie sein Bein mit ihrem.
Das war alles so jämmerlich – und widerlich.
»Sie könnten sich meine Ranch anschauen. Sie ist nicht weit weg. Der Ausblick von dort gehört zu den schönsten.«
»Das wäre nett. Das würde mir gefallen. Und wann, dachten Sie?«
»Warum nicht heute Nachmittag? Nach dem Essen.«
»Keine schlechte Idee.« Andie zuckte mit den Schultern. »Ich habe aber eine andere Idee. Mein Hotel ist nur ein paar Blocks entfernt. Ich bin sicher, ich kann Ihnen einen ebenso hübschen Ausblick bieten.«
Ich saß im Land Cruiser auf der anderen Seite des Platzes und beobachtete Andie und Cavello. Als sich die beiden vom Tisch erhoben und zum Hotel gingen, begann mein Herz zu pochen – Andie hatte ihr Ziel erreicht.
Cavello nickte jemandem in dem ersten Range Rover zu, was, wie ich hoffte, heißen sollte: Nehmt euch den Rest des Nachmittags frei.
Hieß es aber nicht.
Die beiden Männer stiegen sofort aus. Einer war gedrungen, hatte eine Glatze und einen Schnurrbart, der andere war groß, hatte langes, schwarzes Haar und trug eine Adidas-Jacke. Sie folgten Andie und Cavello in zwanzig Metern Entfernung. Das war nicht gut.
Zum ersten Mal, seit Andie und ich diese Sache geplant hatten, schlug mir die Realität ins Gesicht. Ich wusste, für Andie musste schon eine einzige Berührung von Cavellos Hand eine Höllenqual sein, die sie kaum aushalten würde. Aber sich am ganzen Körper von ihm begrabschen zu lassen? Nun hatte ich noch das Problem mit den Leibwächtern am Hals, die Cavello offenbar zum Hotel begleiteten.
Ich umfasste den Griff meiner Glock, die geladen in meiner Jackentasche steckte, und stieg aus meinem Wagen.
Jetzt stellte sich nur noch eine Frage: Sollte ich die Kerle gleich hier erledigen?
Andie war ganz zappelig, als sie versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Cavello ließ sie kaum Luft holen. »Lass mich das machen«, flüsterte er in ihr Ohr.
Er nahm ihr den Schlüssel aus der Hand und drückte eine Sekunde später ihren Körper gegen die Wand, schob seine Zunge in ihren Mund.
Andie musste beinahe würgen.
Dann schob Cavello seine Hand unter ihr T-Shirt und griff nach ihren Brüsten.
O Gott, das war Dominic Cavello, Jarrods Mörder!
Andie schloss die Augen, als sie spürte, wie seine Hand nach unten in ihre Jeans und ihren Slip glitt.
Cavello ging ein Stück auf Abstand und grinste sie an. »Du bist total geil.«
»Ja, aber lass uns nichts überstürzen, Frank. Wir haben alle Zeit der Welt.«
Er zog ihr die Jeansjacke aus und warf sie auf den Boden. »Weißt du, ich wollte dich gleich in dem Moment, als ich dich das erste Mal gesehen habe. Am liebsten hätte ich dich gleich in dem Tabakladen genommen.«
Andie wollte die Süße spielen. »Heißt das, die Fahrt auf deine Ranch ist gestrichen?«
Wieder lachte Cavello, zog sie zu sich heran und legte seine Hände wieder über ihre Brüste. Am liebsten hätte sie ihn gleich in dieser Sekunde getötet.
»Ich brauche noch einen Moment«, keuchte sie.
»Nicht jetzt.« Er zog ihr T-Shirt nach oben, leckte über ihre Brüste und Schultern, rieb seine Hüfte gegen ihre. Mit einem kräftigen Ruck öffnete er ihren BH und fummelte an ihren nackten Brüsten.
»Bitte«, drängte sie, »ich muss ins Badezimmer.«
Cavello blickte ihr in die Augen. »Du willst doch nicht etwa kneifen?«
»Wer kneift hier?« Andie versuchte zu lachen, doch Cavello packte sie an den Handgelenken und warf sie aufs Bett. Er schien die Kontrolle über sich verloren zu haben. Sie versuchte, sich zu beruhigen, dachte aber ständig ans Messer und rutschte nach oben zum Kissen, unter dem es lag. Sie hatte damit in die Melone gestochen und würde es bei Cavello auch tun.
Cavello warf sich zwischen ihre Beine und zerrte an ihren Jeans.
»Nicht so hastig.« Andie tat, als wollte sie ihm helfen, und rutschte noch weiter nach oben, bis sie mit dem Kopf auf dem Kissen lag. Sie tastete nach dem Messer, streckte ihre Beine, stöhnte, als würde sie es genießen, von Cavello ausgezogen zu werden. Aber wo blieb Nick?
Ihre Finger ertasteten den Griff des Messers unter dem Kissen. Cavello musste ein Stück höher rutschen. Sie starrte auf die Stelle an Cavellos Hals, wo sie, wie Nick ihr gezeigt hatte, das Messer hineinrammen musste.
»Wie heißt dein Schiff?«, fragte Cavello unvermittelt.
Andie war überrascht. »Was? B-bitte?«, stammelte sie.
»Wie dein Schiff heißt, Alicia.« Er hielt ihre Handgelenke fest, so dass sie sich nicht mehr bewegen konnte. »Das, mit dem du in die Antarktis willst.«
Andie erstarrte, blickte ihm in die Augen. Mit pochendem Herzen versuchte sie, eine Antwort zu finden.
»Zu dieser Jahreszeit läuft kein Schiff aus. Erst wieder im Frühjahr, nicht im Winter«, fuhr Cavello fort. »Du hast mich täuschen wollen, Alicia.« Er drückte eine Hand in ihre Kehle. »Ich glaube, es ist Zeit, dass du mir sagst, wer du wirklich bist.« Sie waren schon sieben Minuten da oben. Länger konnte ich nicht warten, auch wenn der Leibwächter mit der Adidas-Jacke vor dem Hoteleingang eine Zigarette rauchte. Auch wenn der andere, der Glatzkopf mit dem Schnurrbart, Cavello und Andie nach drinnen gefolgt war.
Ich musste reingehen.
Fünf Sterne wären für das Pelicanos eindeutig zu viel gewesen. Es war ein verschlafenes, ruhiges Hotel mit winziger Eingangshalle und einem einzigen Angestellten hinter der Rezeption, und für die fünf Stockwerke musste ein enger DreiPersonen-Fahrstuhl reichen.
Ich konnte nicht riskieren, durch den Vordereingang zu gehen, weswegen ich um das Hotel herum zu einer schmalen Gasse schlich. Dort befand sich eine alte Feuerleiter, bei der der unterste Absatz im ersten Stock hing. Ich sprang hinauf, umklammerte das Gitter und zog mich nach oben, wo ich vor einem verschlossenen Flurfenster stand.
Ich holte mit dem Ellbogen aus und schlug die Scheibe ein. Glassplitter flogen über den Boden. Ich schob meine Hand durch, drückte das Fenster nach oben und kletterte, die Glock in der Hand, in den Flur.
Gleich neben dem Fahrstuhl führte eine enge Treppe nach oben. Dort war Andie, im zweiten Stock, und dort hinauf ging ich.
Auf dem Absatz zum zweiten Stock blieb ich stehen. Glatzkopf lehnte an der Wand, den Rücken mir zugekehrt, und blickte aus dem Flurfenster.
Ich glitt auf ihn zu, aber er musste mich gehört haben, weil er hektisch nach seiner Waffe griff.
Ich drückte die Mündung meiner Glock gegen seine Jacke und drückte ab. Zweimal – der Knall wurde durch seinen Körper gedämpft. Er zuckte zusammen und fiel gegen die Wand, während er immer noch nach seiner Waffe tastete. Ein roter Fleck breitete sich auf seinem Hemd aus.
Ich rannte den Flur entlang zu Zimmer 304, wo ich einen Moment vor der Tür stehen blieb. Ich hörte jemanden keuchen – Andie.
»Du hast meinen Sohn getötet!«
Cavellos Augen traten hervor, während er versuchte, den Sinn dessen, was sie gesagt hatte, zu erfassen. Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er griff nach der Hundemarke, die Andie immer um den Hals trug. Auf ihr stand Jarrods Geburtstag.
»Du bist vom Gericht! Du bist diejenige, deren Kind mit im Bus war!«
»Du Schwein!« Andie versuchte, sich aus Cavellos Griff zu befreien, doch er war stärker.
»Dir wird es gefallen«, meinte er. »Das wollte ich schon die ganze Zeit während der Gerichtsverhandlung. Gleich auf der Geschworenenbank.«
In dem Moment wurde die Zimmertür aufgebrochen. Cavello wirbelte herum.
»Runter von ihr!«, rief Nick, als er, die Waffe auf Cavello gerichtet, ins Zimmer stürmte.
Schockiert blickte Cavello in die Mündung der Waffe, bis er sein ungläubiges Lächeln nicht mehr zurückhalten konnte. »Nicky Smiles.«
»Du hast gesagt, ich soll dich suchen. Das habe ich getan.«
»Du hast dein Talent vergeudet, Nicky. All diese Jahre, in denen du fürs FBI gearbeitet hast.« Er blickte zu Andie. »Und du, du hast wirklich was verpasst.«
Wortlos schlug Andie mit der Faust so fest in sein Gesicht, wie sie konnte. »Was verpasst? Ich musste aufpassen, dass ich nicht kotze. Du hast meinen Sohn umgebracht!«
»Oh, das tut wirklich weh, Alicia, oder wie auch immer du heißt. Sag mal, Nicky, ist dieses kleine Rendezvous offiziell? Wie hast du mich gefunden?«
Cavello erhob sich vom Bett, rieb sich übers Kinn und bewegte es hin und her.
»El Fin del Mundo. Das war’s. Remlikov hat dich verraten.«
»Remlikov?« Cavello blinzelte. »Wer ist das?«
»Nordeschenko«, antwortete Nick. »Es gibt vieles, wofür du büßen musst, Dom.«
»Na ja, ich denke, ich habe noch Zeit. Die Auslieferungsverhandlungen gehen hier nur schleppend voran. Ich muss schon sagen, ich fühle mich richtig geehrt, dass ihr einen so langen Weg auf euch genommen habt, um mich zu holen.«
Nicks Blick war eiskalt. »Was für eine Schnapsidee von dir zu glauben, dass irgendjemand gekommen ist, um dich zu holen?«
Cavello wurde leichenblass. »Du bist FBI-Agent, Pellisante.«
»Nicht mehr. Gut, was?«
Cavello zog die Nase hoch. »Oh, was soll ich sagen? Ich bin beeindruckt, Nicky Smiles.«
Mit einer gleichförmigen Bewegung griff Cavello zum kleinen Schreibtisch am Fenster und warf ihn auf Nick zu.
Nick drückte ab. Die Kugel bohrte sich in Cavellos Schulter.
Nick schaffte es gerade noch, dem Tisch auszuweichen, der gegen die Wand knallte. Cavello hechtete zum Fenster und schlug es mit der Faust ein, dann sprang er hindurch.
Nick und Andie rannten gleichzeitig zum Fenster. Unten lag Cavello gekrümmt auf dem Boden. Doch er stand wieder auf, eine Hand gegen die Schulter gepresst, und stolperte fort. Ich polterte die Treppe am Ende des Flurs hinunter, bis ich mich an Cavellos anderen Leibwächter erinnerte, der immer noch die Hotelhalle bewachte. Das nächste Problem.
Im ersten Stock blieb ich stehen. Dort war der Fahrstuhl. Ich griff in die Kabine und drückte den Knopf fürs Erdgeschoss, schlich aber dem rasselnden Fahrstuhl über die Treppe hinterher.
Ich wartete, bis sich die Türen im Erdgeschoss öffneten.
Als ich hörte, wie der Fahrstuhl ratternd zum Stehen kam, trat ich mit gezogener Pistole vor.
Cavellos Leibwächter musste den Lärm aus dem zweiten Stock mitbekommen haben, weil er seine halbautomatische Pistole auf die sich öffnenden Türen gerichtet hielt. Ich drückte ab und jagte zwei Kugeln in das Logo seiner mintgrünen Trainingsjacke, so dass er in die leere Kabine stürzte. Dann rannte ich zum Vordereingang.
Draußen war von Cavello keine Spur zu sehen.
Ich rannte in Richtung Hafen, zurück zur Bar Ideal, wo die Range Rover standen.
Als ich um die Ecke zum Platz bog, sah ich Cavello, der auf die Wagen zuhumpelte.
Mit einem kurzen Blick nach hinten setzte sich Cavello in den ersten Range Rover, startete den Motor und legte den Rückwärtsgang ein. Beim Wenden rammte er ein Straßenschild und sorgte dafür, dass ein paar Passanten zur Seite springen mussten.
Ich rannte zu meinem Land Cruiser, der auf der anderen Seite des Platzes stand, und fuhr ihm hinterher. Wenn er seine Ranch erreichte, wäre er für mich verloren. Die Folgen wären Papierkrieg und diplomatische Verhandlungen, die sich über Monate hinzögen, und ich müsste erklären, was ich damit zu tun hatte.
Abgesehen davon war ich nicht hierher gekommen, um ihn ein drittes Mal vor Gericht zu stellen.
Cavello jagte mit seinem Range Rover durch die Straßen der Stadt, schleuderte schwungvoll um enge Kurven, überfuhr alle Stoppschilder und roten Ampeln. Ich raste ihm nur wenige Wagenlängen hinterher.
Wir fuhren bis zum Ostrand der Stadt, in Richtung seiner Ranch. Cavello beschleunigte auf hundertdreißig Sachen. Ich hielt Schritt. Er überholte einen langsamen Lkw, zielte auf den engen Raum zwischen diesem und einem entgegenkommenden Bus, der laut hupend auf sich aufmerksam machen wollte, bis der Fahrer auf die Bremse trat. Cavello verpasste den Bus nur knapp, als er den Wagen zurück auf seine Spur riss.
Auch ich überholte den Lkw, tat alles, um mich auf der engen, verwitterten Straße nicht abhängen zu lassen. Der Zeiger auf dem Tachometer stieg auf fast hundertsechzig Stundenkilometer. Ich konnte erkennen, wie Cavello in den Rückspiegel schaute, als ich ihm immer näher auf die Pelle rückte. Sein Wagen begann auszuscheren. Ein- oder zweimal dachte ich, er würde von der Straße abkommen.
Plötzlich öffnete sich das Fenster auf der Fahrerseite von Cavellos Wagen, und eine Halbautomatik tauchte auf.
Ich trat mit aller Kraft auf die Bremse und duckte mich hinter dem Lenkrad, während die Kugeln von meinem Wagen abprallten.
Vor uns erblickte ich einen Wegweiser, und von rechts mündete eine andere Straße auf unsere. Diese führte zum DawsonGletscher. Noch einmal gab ich Gas, holte Cavello ein und rammte ihn mit voller Wucht.
Diesmal konnte Cavello seinen Range Rover nicht mehr halten. Er machte einen Satz nach vorne und wirbelte um hundertachtzig Grad herum. Ich dachte, er würde umkippen, hoffte, er würde es tun. Doch er tat es nicht, sondern rutschte nur gefährlich an den Straßenrand und wirbelte Staub und Kies auf. Auch ich drückte auf die Bremse. Als ich stehen blieb, blockierte ich Cavellos Wagen. Wir blickten uns in die Augen.
Sein einziger Ausweg war der Canyon. Bevor er die Straße nach oben weiterfuhr, jagte er mir eine Salve aus seiner Halbautomatik entgegen.
Du gehörst mir.
Es war eine felsige, nicht asphaltierte Bergstraße, die kaum für einen Wagen reichte. Ohne Geländewagen wäre keiner von uns beiden weiter als hundert Meter gekommen.
Und es ging immer höher hinauf.
Mein Kopf knallte beinahe gegen den Wagenhimmel. Ich wusste nicht, ob er wusste, wohin er fuhr. Ich auf jeden Fall wusste es nicht, und ich hatte keine Vorstellung von diesem geheimnisvoll klingenden Gletscher und dem unbekannten Gebiet vor uns. Die Wände rechts und links des Canyon erhoben sich steil nach oben. Es war schwierig, mit Cavello Schritt zu halten, und jedes Mal, wenn ich über einen Höcker oder ein Schlagloch fuhr, umklammerte ich das Lenkrad wie einen Rettungsring.
Die Landschaft sah aus wie in einer urzeitlichen Welt. Die Vegetation schrumpfte bis zum Nichts, und vor uns schimmerten schneebedeckte Bergspitzen. Über uns ragten gefrorene Stromschnellen über die Felsen. Es war surreal.
Mit fast hundert Sachen polterten wir über die Straße. In jedem Moment konnte an einem der Wagen ein Reifen platzen. Das wäre der sichere Tod. Cavello schleuderte gefährlich um die Kurven, kratzte an Felsbrocken und Ästen entlang.
Ich musste die Sache zu Ende bringen.
Als Cavello um die nächste Kurve rutschte, drückte ich das Gaspedal durch und rammte ihn von hinten. Sein Range Rover brach aus, er versuchte, die Spur zu halten, dann drehten seine Reifen im Straßengraben durch.
Der Range Rover kippte zur Seite und blieb in einer dicken Staubwolke liegen. Ich trat auf die Bremse und sprang mit entsicherter Waffe aus dem Auto. In Cavellos Auto rührte sich nichts. Es sah übel aus.
Doch plötzlich wurde quietschend die Beifahrertür geöffnet. Ich konnte meinen Augen kaum trauen! Cavello, mit einer Kugel in der Schulter und mit wer weiß was für anderen Verletzungen, die er sich gerade zugezogen hatte, kletterte aus dem Wagen. Er hielt immer noch seine Waffe in der Hand und jagte einen Kugelhagel in meine Richtung. Ich ging hinter meinem Wagen in Deckung, in dem klirrend die Scheiben zerbarsten. Cavello schoss, bis das Magazin leer war.
»Das Ende der Welt, Dom«, rief ich ihm zu. »Für dich.« Als ich auf ihn zuging, begann er, den Weg zum Gletscher hinaufzuhumpeln. Was war das bloß für ein Kerl?
»Es ist Zeit, die Schulden zu bezahlen, Dom. Erinnerst du dich an Manny Oliva? An Ed Sinclair?«, rief ich. Meine Stimme hallte von den schroffen Wänden wider.
Er zog sich auf allen vieren den Hang hinauf, rutschte wieder nach unten, richtete sich auf, griff nach Felsen und losem Geröll. Ich hielt mich etwa dreißig Meter hinter ihm.
Über einer Felsbank vor uns hing ein riesiger Eisblock. Er war zehn Meter hoch und unendlich breit. Atemberaubend. Hätte tausend Titanics zum Untergang gebracht. Und darauf strebte Cavello zu.
Er begann zu rutschen und fiel. Diesmal schrie er vor Schmerzen auf.
»Was ist mit Ralphies Schwester, Dom? Erinnerst du dich an sie? Oder an das kleine Mädchen, das du verbrüht hast? Wie alt war sie, ein Jahr?«
Cavello erreichte eine vielleicht sieben Meter tiefe Gletscherspalte. Es gab keinen Ausweg mehr für ihn.
Er drehte sich zu mir. »Was willst du denn von mir? Willst du, dass ich mich hinknie und bettle? Willst du hören, dass es mir leid tut? Es tut mir leid! Es tut mir leid!« Er verhöhnte mich und alles, wofür ich stand und woran ich glaubte.
Erschöpft keuchend zielte ich mit der Waffe auf Cavellos Brust. Und er stand einfach da am Rande des Abgrunds – darauf hatte ich so lange gewartet.
»Also los, Nicky Smiles. Du hast gewonnen! Es ist kalt, und wer weiß, was für Tiere es hier in der Wildnis gibt. Willst du noch ein paar letzte Worte hören? Es tut mir so leid, Nick, wirklich. Es tut mir leid, dass ich nicht die Gelegenheit hatte, diese Frau zu ficken, bevor du reingekommen bist. Ein geiles Stück. Also los, Nick. Siehst du, wie leid es mir tut? Mach schon. Erschieß mich!«
Also schoss ich. Eine Kugel durchbohrte sein Bein. Cavello kippte schreiend nach vorne. Ich schoss noch einmal, diesmal auf sein Fußgelenk, das ich zertrümmerte.
Cavello schrie und humpelte rückwärts, bis sein Fuß über die Kante glitt. Er rutschte, versuchte sich zu halten, landete aber mit einem dumpfen Schlag sieben Meter tiefer auf dem Rücken. Jetzt saß er völlig in der Falle, hatte keine Chance mehr, ohne meine Hilfe herauszukommen.
Eine Sekunde lang dachte ich, er wäre tot. Reglos lag er blutend und völlig verkrümmt auf dem Eis.
Doch er bewegte sich noch einmal, hievte sich auf die Knie. Seine Augen glänzten. »Du glaubst, du bist ein besserer Mensch als ich? Du bist erledigt, Pellisante. Du darfst dich glücklich schätzen, wenn du nicht den Rest deines Lebens im Knast verbringst. Toller Witz, was? Du gibst dein Leben auf, nur um meins zu beenden. Also los.« Er breitete die Arme aus. »Bring’s zu Ende. Schieß! Besser das als irgendein wildes Tier. Verschone mich.«
Ich zielte mit meiner Glock auf Cavello, bereit, dieses bemitleidenswerte Tier zu töten. Doch wir befanden uns hier mitten im Nichts. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Er konnte nicht herausklettern. Der Geruch von Blut würde wie ein Magnet die Tiere anziehen, vor denen er sich fürchtete. Oder vielleicht würde er einfach während der Nacht an seinen Wunden sterben oder erfrieren.
Ich senkte die Waffe wieder.
»Weißt du, Dom«, sagte ich, »irgendwie gefällt mir deine Idee. Sehr sogar. Die mit den Tieren, die dich anfallen könnten.«
»Komm schon, Nick, tu es«, knurrte er. »Was ist los, fehlt dir der Mumm?«
»Er hieß Jarrod, Dom. Er war zehn Jahre alt.«
»Komm, tu es. Töte mich, du Schwein. Erschieß mich!«
»Erinnerst du dich, was du an dem Abend im Gefängnis, als ich dich besuchen kam, zu mir gesagt hast? An dem Tag, als der Geschworenenbus in die Luft flog?«
Cavello funkelte mich mit seinen Augen an.
»Nur damit du es weißt – ich werde heute Nacht schlafen wie ein Baby.«
Einen Moment lang sah ich noch zu Cavello hinunter, bis ich sicher war, dass es für ihn keine Fluchtmöglichkeit gab. Dann ließ ich ihn allein.

Patterson James
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